Mastodon
top of page

Lotto fickt die Unterschicht

  • Autorenbild: Chatty Avocado
    Chatty Avocado
  • 9. März 2024
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 9. März 2024

Anfang März 2024 gewann jemand fast 65 Millionen Fränkli im Schweizer Zahlenlotto. Das ist zauberschön für den Glückspilz - aber nicht gleich alles auf einmal ausgeben, ja? Item. Was dabei leider oft vergessen geht: Lotterien sind grotesk asoziale Umverteilungswerke.

Blick in eine altertümliche Lostrommel voller hölzerner Lottokugeln

Bild: Pixabay.com (Karabo_Spain)



Vor etwas weniger als 600 Jahren, im späten Mittelalter an der Schwelle zur Renaissance, entstand in den nördlichen Niederlanden und in Oberitalien unabhängig voneinander das Lottospiel. Rasch breitete es sich alsdann über den gesamten europäischen Subkontinent aus. Die damals herrschenden Könige und Fürsten hatten offenbar ziemlich schnell kapiert (wahrscheinlich dank kluger Berater aus weniger kreisförmigen Stammbäumen), wie man mit derlei Glücksspiel nicht bloss ein Heidengeld verdienen, sondern wie man damit ausserdem diverse Staatsausgaben finanzieren und sich so nebenbei auch den Applaus des gemeinen Pöbels erkaufen konnte. Hafenausbauten, Brücken, Kirchtürme, Waisenhäuser - regelmässig verwendete die Obrigkeit seither einen Teil der Lotterieeinnahmen für gemeinnützige Zwecke, oder veranstaltete zweckgebundene Lotterien zur direkten Finanzierung grösserer Projekte.


Und also begab sich historisch, dass das Lotterierecht bis in unsere Zeit hinein stets fest in öffentlichen Händen verblieb und nicht bloss beiläufig, sondern zu wesentlichen Teilen gemeinnützigen Charakter hatte und behielt. Folglich führen auch die heutzutage konzessionierten Lotteriebetreiber einen saftigen Teil ihrer Einnahmen an den Staat ab: In der Schweiz sind es knapp 30 Prozent der Spieleinsätze, in Deutschland sogar fast 40 Prozent, die an Kantone bzw. Bundesländer fliessen und mithin umverteilt werden. Da könnte man sich wohl denken: "Aber hallo, das ist doch schön, das gibt Geld fürs Gemeinwesen, da wird noch ordentlich was fürs (hoffentlich eigene) Volk getan, recht so. Muss man jetzt eigentlich immer über alles motzen, wollen uns diese Scheissgrünen etwa auch noch unsere Lottoscheine madig machen?!" - Naja, das könnte man sich so ähnlich denken - wenn nicht die Sache einen fetten Haken hätte. Denn wann immer es um Umverteilung geht, sollte man sich bitte tunlichst fragen, wer da eigentlich wieviel wofür an wen umverteilt. Und das machen wir jetzt mal schön.


Lotterien verteilen Geld auf drei Arten um: Erstens und am offensichtlichsten, indem sehr viele Menschen je sehr wenig Geld in einen Topf schmeissen, damit nach der Ziehung in erster Linie sehr wenige Menschen je sehr viel aus diesem Topf rauskriegen. Jackpot halt. Und ja, ein paar Brosamen werden in Form kleinerer Gewinne ebenfalls rückverteilt, aber zur Hauptsache geht's halt doch allen um den Jackpot. Egal. Diese primäre Umverteilung ist allgemein bekannt und liegt ja auch irgendwie in der Natur der Sache, damit hat also niemand wirklich ein Problem. Man weiss schliesslich, worauf man sich da einlässt, dass man halt nur eine klitzekleine Chance von eins zu vielen Millionen hat, um vielleicht selbst einmal viele Millionen zu gewinnen, und dass man mit dem eigenen Spieleinsatz zumeist sehr viel wahrscheinlicher einen Obolus an den Hauptgewinn einer anderen Person leistet, als selbst endlich gross abzugarnieren. Es ist in etwa dasselbe Spiel wie mit diesem "vom Tellerwäscher zum Millionär"-Monopoly-Märchen, und die Gewinnwahrscheinlichkeiten sind auch ungefähr dieselben.


Gesellschaftspolitisch und auch ethisch schwieriger wird's beim zweiten und dann insbesondere beim dritten Umverteilungsmechanismus. Der zweite läuft, wie oben bereits erwähnt, zwischen Spielern und Staat ab: Wenn jemand in der Schweiz für zehn Franken Lotto spielt, liefert man auf diesem Wege quasi als direkte Sondersteuer etwa drei Franken an die Kantone ab. Ist auch dies allgemein bekannt? Es wäre jedenfalls via Swisslos-Website oder Medien relativ leicht in Erfahrung zu bringen.


Die dritte Form der Umverteilung letztlich wird wirksam und mit ihrer Wirksamkeit dann auch gleich hochproblematisch, sobald nicht in allen Bevölkerungsschichten etwa gleichmässig Lotto gespielt wird und/oder wenn die staatlichen Lotterieeinnahmen nicht plus minus verursachergerecht in Form staatlicher Leistungen an jene zurückfliessen, die es am nötigsten haben bzw. die mit ihren Lottoscheinen diese Einnahmen überhaupt erst generiert hatten. Mit anderen Worten: In dieser dritten Form wird gewissermassen sozial umverteilt, und zwar von Menschen, die Lotto spielen, an Menschen, die jene Leistungen beziehen, die der Staat mit Lottoeinnahmen finanziert. Aber okay, diese dritte Form der Umverteilung war jetzt etwas abstrakt beschrieben. Machen wir es doch an den gegenwärtigen wissenschaftlichen Tatsachen fest (vgl. Quelle am Schluss des Beitrags):


Tendenziell spielen vor allem ärmere Menschen Lotto. Sie finanzieren dadurch staatliche Leistungen, in deren Genuss sie in aller Regel selbst nicht kommen.

Das ist unschön, nicht wahr? Tatsächlich ist es mehr als nur unschön. Im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat gilt nämlich punkto Besteuerung für gewöhnlich das sogenannte Leistungsfähigkeitsprinzip. Dieses normative Prinzip jeder solidarischen, auf soziale Gerechtigkeit gepolten Gesellschaft besagt im Wesentlichen, dass wer viel hat, auch bitteschön entsprechend viel zum Gemeinwesen beitragen soll. Bei Einkommens- und Vermögenssteuern gilt daher üblicherweise eine Steuerprogression, d.h. je höher das Einkommen bzw. Vermögen, umso höher auch der Steuersatz. Man bezahlt also nicht unabhängig vom Einkommen beispielsweise stets den Zehnten, sondern mit zunehmendem Einkommen immer mehr, z.B. 20 oder 30 oder noch mehr Prozentpunkte.


In heutigen Lotterien verhält es sich jedoch wie oben herausgestellt ziemlich exakt umgekehrt: Wer wenig hat, trägt viel bei. Heisst: Die Lotterieeinnahmen der öffentlichen Hand werden zu wesentlichen Teilen von der Unterschicht berappt. Lotterien sind daher steuerregressive Umverteilungswerke und folglich einigermassen krasse Verstösse gegen grundlegende Prinzipien des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Und nicht nur das. Wenn es denn wenigstens noch so wäre, dass die unteren Einkommensschichten in den Genuss eben jener staatlichen Leistungen kämen, die sie selbst via Lottoscheine berappt hatten. Aber nö, nicht mal das. Die öffentliche Hand setzt Lotterieeinnahmen allem Anschein nach nur eher geringfügig in Bereichen ein, die den Lottospielern aus der Unterschicht zugutekommen. Wer arm ist und Lotto spielt, wird also gleich doppelt gefickt: Man bezahlt viel und hat nichts davon. Oder sogar dreifach, weil im Lotto ohnehin nahezu immer ein anderer gewinnt. Kurzum: Lotto als epischer Umverteilungsfail.


Stellt sich die Frage, wie man das besser machen könnte (nun ja, insofern man an Lotterien festhalten möchte). Meine Lösung sähe so aus, dass erstens Lottoscheine mit Zweckbindung eingeführt werden. Ergänzend zu den heutigen Scheinen, bei denen man mehr oder weniger keine Ahnung hat, wie der Staat den Steueranteil am Spieleinsatz verwendet, würde man neu mit einem Kreuz o.ä. den Zweck angeben können (Umwelt, Bildung, Infrastruktur, Soziales, Verkehr usw.), und die öffentliche Hand müsste den jeweiligen Steueranteil am Spieleinsatz dann eben diesem Zweck zuführen. Auf diese Weise könnte die Unterschicht immerhin relativ gezielt dafür sorgen, dass sie selbst wieder in den Genuss ihrer eigenen Lotto-Spielabgaben gelangt. Alternativ würde der Staat verpflichtet, periodisch die Demografie der Lottospielerinnen und -spieler zu erheben und die Lotterieeinnahmen entsprechend einzusetzen, oder aber diese Einnahmen ausschliesslich jeweils für die Bedürftigsten zu verwenden.


Zweitens würde ein neuer Steuerabzug eingeführt, indem man einen Teil seiner Lotto-Spieleinsätze als gemeinnützige Spenden von der Einkommenssteuer absetzen könnte. Auf diese Weise würden dann wohl auch besser betuchte Bevölkerungsschichten zum Lottospiel und mithin via Staatsanteil zum mildtätigen Beitrag animiert, denn in diesen Schichten stehen Steuerabzüge generell besonders hoch im Kurs. Diese Idee hat zwar, ich weiss, ein wenig ein Gschmäckle, aber der Zweck könnte dieses Mittel voraussichtlich heiligen. Drittens könnte man den Staatsanteil an den Lotterieeinnahmen erhöhen, in der Schweiz z.B. von derzeit 30 auf neu 40 Prozent. Und viertens könnte man zugunsten allgemein höherer Gewinne bzw. einer ausgeglicheneren Gewinnverteilung den Jackpot pro Person deckeln - ich meine: wer zum Fick braucht schon 65 Millionen? Durch solche und etwaige weitere Massnahmen würde die prinzipiell begrüssenswerte Gemeinnützigkeit von Lotterien gesteigert und das Problem der regressiven Sonderbesteuerung der schlechter betuchten Lottospielerinnen und -spieler abgemildert.


Was man jedoch ganz bestimmt nicht machen darf: Die ganze Chose privatisieren, wie das die üblichen Verdächtigen aus den marktliberalen und rechtskonservativen politischen Lagern immer mal wieder gerne fordern. Dadurch wäre lediglich erreicht, was wir auch sonst allenthalben in diesem ach so freien kapitalistischen System beobachten dürfen: Eine antidemokratische, sich akzentuierende Umverteilung von Arm zu Reich.


 

Quelle: Abhandlung "Wer spielt Lotto?" von Jens Beckert & Mark Lutter

6 Kommentare


Willy Gloor
Willy Gloor
09. März 2024

Wie heisst diese Avocado eigentlich sonst so?

Gefällt mir
Chatty Avocado
Chatty Avocado
10. März 2024
Antwort an

Hm? Wegen anonym und so? Findest Du blöd? Ja, vielleicht wäre es mal an der Zeit, das Ding hier mit Klarnamen zu betreiben, stimmt schon.

Gefällt mir

Willy Gloor
Willy Gloor
09. März 2024

Danke, Valentin! Sehr interessanter Beitrag, soweit habe ich in dieser Chose noch nie gedacht. Spiele eigentlich auch kaum je Lotto... 😅

Mit deiner Lösung sähe ich hingegen einen Sinn.

Gruss, dein Ex-Klassenlehrer

Gefällt mir
Chatty Avocado
Chatty Avocado
09. März 2024
Antwort an

Ich kümmere mich darum, versprochen. 🤓

Gefällt mir

nachschlag

bottom of page