Am Self-Checkout offenbart der Mensch sein wahres Ich. Hier wird seine Tugendhaftigkeit oder die schändliche Absenz derselbigen manifest. Hier zeigt sich sein Charakter in edlem Glanze oder verwester Mattigkeit. Ein Versuch über Moral. Und über Arschlöcher.
Der Leitgedanke dieses Beitrags als Haiku (naja, plus minus):
Wer seinen Kassenzettel vorsätzlich und ohne Not am Self-Checkout liegen lässt, ist ein Arschloch.
Disclaimer: Vorsatz und Abwesenheit von Not sind im Leitgedanken von wesentlicher Bedeutung, denn nur wer wissentlich und willentlich seinen Kassenzettel liegen lässt, aber unbehindert eine andere Wahl gehabt hätte, ist ein Arschloch. Blosses Versehen oder schiere Alternativlosigkeit treffen hingegen keinerlei Schuld. Ein Thalidomid-Kind, um nur ein Gegenbeispiel zu nennen, kann am Self-Checkout unmöglich zum Arschloch werden, weil hier die Not sozusagen auf der inexistenten Hand liegt.
Ich werde in diesem Beitrag entlang von vier Typen ethischer Theorien aufzeigen, dass und weshalb Kassenzettel-am-Self-Checkout-Liegenlasser (fortan mit "KSL" abgekürzt) unmoralische Arschlöcher sind. Die Untersuchung ist wie folgt strukturiert:
Ausgangslage und Hypothese
Am Self-Checkout befindet sich der moderne Mensch in einer Situation, die zunächst keine moralischen Aspekte aufweist, weil üblicherweise keine anderen Lebewesen beteiligt sind. Sobald jemand aber den Kassenzettel liegen lässt, konstituiert dieser Jemand eine moralisch geladene Gegebenheit, weil dem je nächsten Menschen an diesem Self-Checkout nun eine Entscheidungsfindung aufgenötigt wird. Diese multioptionale, punktuell gar dilemmatische Situation, in der sich die nachfolgende Person alsdann bedauernswerterweise befindet, ist alles andere als banal:
Soll man den Zettel des Vorgängers mitnehmen oder liegen lassen?
Soll man den eigenen Zettel ebenfalls liegen lassen?
Soll man den Zettel des Vorgängers aufmerksam studieren, um einen schrägen Voyeurismus zu befriedigen?
Soll man zuwarten, auf dass der Vorgänger eventuell zurückkehrt und, falls dies nicht innert nützlicher Frist geschieht, eine Haftnotiz o.ä. am Self-Checkout anbringen?
Soll man den Zettel des Vorgängers unter Massgabe der eigenen Kontaktdaten beim Kundendienst abgeben, damit er bei Bedarf dort abgeholt werden kann?
Soll man sich im Angesicht all dieser Fragestellungen einfach selbst aufgeben und wehklagend in einen bitterlichen Weinkrampf verfallen?
Der Fragenkatalog ist natürlich bei Weitem nicht abschliessend. Ein vernunftbegabter Mensch erkennt aber schon an dieser kleinen Auswahl, wie die vom KSL aufgezwungene Entscheidungsfindung durchaus geeignet sein kann, eher zarte Gemüter nachhaltig zu verstören. Aber wir schlucken unsere Abscheu fürs Erste gleich wieder herunter und spülen mit einem tüchtigen Schluck Unparteilichkeit nach, damit sich das aufbrodelnde Bauchgefühl beruhigt, denn dies hier ist eine nüchterne, knallhart wissenschaftliche Untersuchung. Daher stelle ich nun die zu testende Hypothese auf: Den Kassenzettel am Self-Checkout liegen zu lassen ist unmoralisch.
Folge den Folgen: Konsequentialismus
Der Konsequentialismus beurteilt den moralischen Wert einer Handlung ausschliesslich aufgrund ihrer Auswirkungen (Konsequenzen) respektive ihres Nutzens. Moralisch geboten sind demnach Handlungen, die unsere Welt möglichst besser machen. Verkürzt: "Der Zweck heiligt die Mittel."
Die Konsequenzen der hier besprochenen Handlung bestehen darin, dass die je nächste Person am Self-Checkout auf die Hinterlassenschaft seiner Vorgänger reagieren muss. Ein KSL induziert also eine wie auch immer geartete Reaktion, die es ohne seine Handlung nicht gäbe. Sofern diese Reaktion nach gutem Treu und Glauben in einer Mehrzahl der Fälle positiv ausfiele, mithin bei der reagierenden Person einen Nutzen stiftete und deren kleine Welt besser machte, wäre die Handlung zumindest moralisch erlaubt, wenn nicht gar geboten.
Dem ist aber nicht so. Keinem auch nur halbwegs normal fühlenden Menschen geht das Herz auf, wenn er den Unrat eines Zeitgenossen wegzuräumen genötigt wird. Umso mehr noch, als dieser Zeitgenosse sich ja gerade aktiv dagegen entschieden hatte, das mal schön selbst zu tun und sich dergestalt auch nonchalant ums Verursacherprinzip foutierte. Folglich hat die Handlung des KSL nicht nur keinen Zweck, sie macht die Welt darüber hinaus auch nicht ein My besser. Im Gegenteil, siehe Ausgangslage.
Ähnlich gelagert ist der Fall bei öffentlichen Toiletten: Auch hier ist die Freude für gewöhnlich gering, wenn man gleich beim Betreten der Kabine eines braunen Souvenirs ansichtig werden muss, das ein Vorgänger schlimmstenfalls druckvoll in die Keramik rückengehustet und quasi als Fäkalkunst am Bau ungereinigt, vielleicht gar ungespült hinterlassen hatte. Und damit dem Nachfolgenden gleichermassen optisch wie olfaktorisch die Botschaft übermittelte, geradezu buchstäblich: Du bist mir scheissegal.
Fazit: Aus konsequentialistischer Sicht handelt ein KSL unmoralisch, weil die Auswirkungen seiner Handlung die Welt nahezu ausnahmslos schlechter machen.
Folge den Pflichten: Deontologie
In der Deontologie sind die Konsequenzen einer Handlung eher irrelevant. Hier sind die Handlungen an sich im moralischen Sinne gut oder schlecht, insofern sich der Handelnde pflichtgemäss an allgemeinen Regeln orientiert. Verkürzt: "Behandle die Mitmenschen so, wie du von ihnen behandelt werden willst."
In dieser Denkschule müssen wir zunächst untersuchen, ob die Handlung des KSL an sich moralisch gut oder schlecht ist, das heisst in erster Linie ungeachtet ihrer Auswirkungen. Die Untersuchung fördert keine brauchbaren Resultate zutage, weil die besprochene Handlung erst durch ihre Konsequenzen moralisch wirksam wird. Deshalb ist es in einer radikal absolutistischen Auslegung der Deontologie weder intrinsisch gut noch schlecht, seinen Kassenzettel am Self-Checkout liegen zu lassen.
Nun sind die Konsequenzen von Handlungen in der deontologischen Ethik aber nicht prinzipiell ohne Interesse. Sie sind durchaus berücksichtigungswürdig, zumindest bei moderaten Vertretern dieser Theorie. Des Weiteren - und hier sind wir beim kategorischen Imperativ von Kant angelangt - müssen wir prüfen, welcher Maxime ein KSL folgt und ob diese Maxime zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könnte. Kurzum mit welchen Absichten der Kassenzettel nicht weggeräumt wurde, und ob diese Absichten als allgemeingültige moralische Pflichten geeignet wären.
Das ist ziemlich einfach: Niemand kann wollen, dass jedermann den Kassenzettel liegen lässt, weil sich sonst innert Kürze ein bald babylonisch anmutender Papierberg auftürmte, den periodisch jemand vom Supermarkt wegräumen müsste, was die Lohnkosten und letztlich die Konsumentenpreise erhöhte. Wenn hingegen alle ihre Kassenzettel mitnehmen, ist allen gedient. Zudem ist die KSL-Handlung ein gelebtes Symbol wenn nicht der Respektlosigkeit, dann doch mindestens der Achtlosigkeit und ergo eine Abkehr dessen, was Menschen anderen Lebewesen schulden: Respekt und Achtung. Die Maxime der KSL-Handlung darf deswegen keinesfalls mit Allgemeingültigkeit geadelt werden.
Fazit: Aus deontologischer Sicht handelt ein KSL unmoralisch, weil seine Handlung keiner Maxime folgt, von der man wollen könnte, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Folge dem Vertrag: Kontraktualismus
Im Kontraktualismus leitet sich der moralische Wert einer Handlung von der expliziten oder auch nur hypothetischen Zustimmung aller Betroffenen ab. Der Kontraktualismus will einen Gesellschaftsvertrag über das moralische Regelwerk entwickeln, dem sämtliche Betroffenen zustimmen können sollten.
Begeben wir uns für einen Moment hinter den Schleier des Nichtwissens. In dieser fiktiven Situation sind alle Menschen gleich, das heisst sie haben keine Kenntnis über ihre Position in der Gesellschaft, ihren Besitz, ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften und alles Weitere, was sie von ihren Mitmenschen innerlich und äusserlich unterscheidet. Vor diesem Hintergrund wird unbefangen über eine gerechte Gesellschaftsordnung entschieden und ein Vertrag abgeschlossen, der frei von Eigennutz und Kalkül ist.
Weil nämlich niemand über die vorhin aufgeführten Parameter Bescheid weiss, kann sich auch niemand aufgrund eben dieser Parameter im Rahmen der Vertragsverhandlung einen Vorteil verschaffen: Wenn ich mit derselben Wahrscheinlichkeit als mausarmer, syphilitischer Ziegenhirte am Hindukusch oder als schwerreicher, bildhübscher Filmstar in Hollywood in der Gesellschaft lande, werde ich mir für beide Positionen gut überlegen müssen, inwieweit diese für mich und andere moralisch akzeptabel sind.
Hinter dem Schleier des Nichtwissens wird schnell klar, dass sich niemand für ein KSL-Verhalten als Passus eines allgemeingültigen Gesellschaftsvertrages stark machen würde, denn ansonsten könnte jedermann in die Situation kommen, den Kassenzettel eines Vorgängers anzutreffen. Das würde jedoch niemand wollen, wie weiter oben bereits in epischer Breite ausgeführt worden ist, zumal weder die Absichten der KSL-Handlung, noch die Handlung an sich, noch deren Folgen wünschenswert sind. Womöglich ist es hilfreich, sich hier erneut den ähnlichen Fall "öffentliche Toilette" vor Augen zu führen.
Fazit: Aus kontraktualistischer Sicht handelt ein KSL unmoralisch, weil der Handlung eine Moral zugrunde liegt, der die von dieser Moral Betroffenen nicht zustimmen würden.
Folge den Gutmenschen: Tugendethik
Gemäss der Tugendethik sollte man sich jene zum Vorbild nehmen, die von gutem Charakter sind, die das Gute wollen. Sie betont nicht die Handlungen oder deren Auswirkungen, sondern die richtigen Einstellungen und Charaktereigenschaften, um moralisch gute Handlungen hervorzubringen.
Würde ein tugendhafter Mensch seinen Kassenzettel am Self-Checkout liegen lassen? Schon alleine gemessen daran, dass es sich um eine Handlung mit klar unmoralischen Auswirkungen handelt (siehe Konsequentialismus), ist die Frage rundheraus zu verneinen. Jede weitere Analyse und Beurteilung von KSL entlang der Tugendethik können wir uns an dieser Stelle daher getrost schenken.
Fazit: Aus tugendethischer Sicht handelt ein KSL unmoralisch, weil er sich nicht an denjenigen orientiert, die von gutem Charakter sind, sondern an seiner eigenen Verderbtheit.
Zusammenfassung und Verdikt
Unabhängig davon, welche ethische Denkschule man auch bemüht, die eingangs gestellte Hypothese wird umfänglich verifiziert: KSL handeln unmoralisch und sind folglich Arschlöcher, weil nur Arschlöcher unmoralisch handeln. Schuldig im Sinne der Anklage! Erhebt jemand Einspruch?
Okay: Schiesst man nicht mit zu wuchtigen Kanonen auf putzige, kleine Spatzen, wenn man KSL als Arschlöcher bezeichnet? Wird hier nicht allzu streng geurteilt? - Mitnichten! Denn dieser menschliche Bodensatz tritt in vollstem Bewusstsein an die ehernen Eckpfeiler unserer Gesellschaft, mittelstrahlpisst ans granitene Fundament eines wohlgeordneten, lebensbejahenden Miteinanders, verkehrt das bekannte Bibelwort in sein schieres Gegenteil: Hasse deinen Nächsten wie dich selbst.
Der Firnis der Zivilisation ist sehr dünn, das erkannte schon der grosse Mani Matter in seinem "I han es Zündhölzli azündt". Wir müssen also gemeinsam den Anfängen wehren, denn Gleichgültigkeit ist die kleine, potthässliche Schwester der Rücksichtslosigkeit. Und gerade Rücksichtslosigkeit, eine "nach mir die Sintflut"-Mentalität führt die Menschheit an den Abgrund, siehe insbesondere den Klimawandel. Wir werden grosse, globale Probleme nicht zu lösen imstande sein, wenn wir schon im Kleinsten versagen, in gegenseitiger Wertschätzung, Rücksichtnahme und Solidarität.
Wie alle Arschlöcher sind daher auch KSL für ihr bewusst unmoralisches Handeln mit gesellschaftlicher Ächtung abzustrafen. Nichtsdestotrotz sollte ihnen eine mildtätige Hand zur Resozialisierung gereicht werden. Dies in der womöglich zur Enttäuschung verdammten Hoffnung, in ihnen schlummere vielleicht noch ein kleiner, ausglimmender Rest des Guten, durch den man sie besser machen könne. Denn auch ein moralischer Analphabetismus ist heilbar, zumindest theoretisch. Und man sollte erwägen, Ethik zum Pflichtfach ab der Grundschule zu machen, damit inskünftig weniger Arschlöcher unter anderem ihre Kassenzettel am Self-Checkout liegen lassen.
PS: Vielleicht sollten am Self-Checkout einfach keine Kassenzettel mehr ausgespuckt werden, das würde das Problem wohl auch lösen. So oder so: Einstweilen gilt mein aufrichtiger Gruss an alle KSL:
@Cornelie: Danke für Deinen Kommentar. Einen gleich lautenden Einwand hatte ich auch schon aus der Zürcher Pampa erhalten. Gut zu wissen, dass es Kantone und/oder Läden gibt, die dieser Seuche bereits proaktiv Einhalt geboten haben. Bleibt bloss noch zu hoffen, dass sich die KSL darob nicht einfach aufs Littering oder so verlegen, sondern die Zeichen der Zeit erkennen und an ihrem Charakter arbeiten. :)
Es ist mir neu dass der selbst checkout Automaten Kassensettel ausdrückt. Jedenfalls in Kanton Fribourg kriegt man nur auf Wünsch Kassensettel vom selbst checkout. Wohl möglich dass dies von Kanton zur Kanton unterschiedlich ist. ;-)