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AutorenbildChatty Avocado

Fifty Shades of Brown

Aktualisiert: 24. Aug. 2021

Yours truly and friends leisteten einen Freiwilligeneinsatz im Ahrtal in Deutschland, das im Juli 2021 von einer Flutkatastrophe biblischen Ausmasses heimgesucht worden war. Gegen 200 Menschen sind gestorben, gegen 1'000 wurden verletzt. Etwa 10'000 Häuser im Ahrtal sind zerstört oder schwer beschädigt, die Sachschäden belaufen sich auf viele Milliarden Euro. Ein Erlebnisbericht.


Anreise

Meine Partnerin Ivana erhielt wenige Tage zuvor eine WhatsApp-Nachricht ihrer besten Freundin Judit: Sie fahre mit einem Bekannten, Piebe, am frühen Freitagmorgen ins Ahrtal um dort zu helfen; ob Ivana auch mitkommen möchte. Der Fall war schnell klar - für uns beide, ich arbeite ja freitags nicht. Bereits am Donnerstagabend machten wir uns auf zu Judit, weil die Abfahrt für 4 Uhr früh am nächsten Morgen geplant war und wir keine grosse Lust hatten, zuhause um 2 Uhr aufzustehen. Es wurde trotzdem eine sehr kurze Nacht. In der Wohnung von Judit sind alle Türen ausgehängt; in den Rahmen hängen nur bunte Stofftücher, die weder für Licht, noch für Schall, und schon gar nicht für Monty, den jungen, neugierig-verspielten Podenco-Labrador-Mix ein wesentliches Hindernis darstellen.


Piebe war perfekt pünktlich und hatte allerlei Werkzeug und sogar Schubkarre an Bord. Mit nur wenig Verspätung nahmen wir die gut 400 Kilometer gen Norden unter die Räder. Ich fühlte mich nach nur etwa drei Stunden Schlaf wie verkochter Lauch. Die wässrige Koffeinjauche beim Zwischenstopp auf halber Strecke half nur wenig, und im Auto pennen ist leider so gar nicht meins. Kurz nach 8 Uhr trafen wir im Ort Grafschaft südlich von Bonn ein. Ich war inzwischen einigermassen betriebsbereit.


Weil Piebe die ganze Aktion angerissen hatte, erklärten wir ihn einstimmig zum Anführer. Er übernahm gelassen und ohne Murren. Wir watschelten mit Sack und Pack vom Parkplatz hinunter zum Treffpunkt, wo Piebe einige Abklärungen traf, während aus Lautsprechern eine wenig sympathische Stimme Infos und Anweisungen blechern in die noch kühle Morgenluft bellte. Der Treffpunkt war eine weitläufige Wiese, auf der sich zu diesem Zeitpunkt schon weit über 100 Menschen eingefunden hatten, um sich für Einsätze im Katastrophengebiet zu melden, Werkzeuge und Verpflegung mitzunehmen und in die Helfer-Shuttles zu steigen. Zu unserer Freude erwies sich, dass wir mit dem eigenen Auto ins Ahrtal fahren konnten. Piebe ging es holen, während Ivana, Judit und ich zum zweiten Parkplatz hinübermarschierten, auf dem einige Langzeit-Freiwillige ihre Camper und Zelte aufgeschlagen hatten.


In der Nähe unseres Autos versammelte sich eine Helfergruppe in blauen T-Shirts, Ehrenamtliche der christlichen NGO "Samaritan's Purse - Die barmherzigen Samariter". Piebe quatschte jemanden an. Wir durften uns ihnen anschliessen, sie hatten zahlreiche Aufträge. Ein Hüne in Warnweste sprach ein Gebet und hielt dann eine kurze Ansprache, gab etliche Sicherheitshinweise und riet vom expliziten Missionieren ab. Ganz in meinem Sinne. Nachdem auch wir blaue T-Shirts übergestreift hatten, fuhren wir nach Altenahr, in eine der am schwersten getroffenen Gemeinden mit etwa 2'000 Einwohnern.



Altenahr

Auf dem Hinweg war lange Zeit nicht viel zu erkennen. Erst beim Hinunterfahren in den Talkessel zeigte sich das ganze Ausmass der Verwüstungen. Trotz weit offener Münder wurde es ziemlich still im Auto, meine Augen befeuchteten sich. Der sich uns bietende Anblick war vermutlich am treffendsten mit "Kriegsgebiet" zu beschreiben. Und ich wusste zuvor nicht, dass es dermassen viele Schattierungen von Braun gibt. Grün sah man fast nur noch an den Talhängen, wo unversehrte Bäume standen.


Wir konnten vorbei an Häuserruinen bis zum Einsatzort vorfahren, einem Mehrfamilienhaus, wo uns die Eigentümerin Birgit begrüsste. Sie war etwas aufgekratzt, aber guter Dinge und sehr redselig, erzählte uns, dass sie und ihr Mann das Haus erst vor etwa eineinhalb Jahren gekauft hatten. Und dass sich ihr Mieter im zweiten Obergeschoss über Baulärm und andere Unannehmlichkeiten zu beklagen nicht entblödete. Umschwung, Keller, Erdgeschoss und erstes Obergeschoss waren komplett zerstört und mussten vor dem Wiederaufbau bis auf die Grundmauern ausgehöhlt werden. Strom gab's bereits wieder, für Wasser und Abwasser musste man sich aber noch eine ansehnliche Weile gedulden.



Unser Tagesauftrag: Im weitläufigen Keller mit Bohrhämmern, Brecheisen, Hammer und Meissel, oder was auch immer an Werkzeug verfügbar war, den fingerdicken Kalkputz von den Wänden spitzen. Im Erdgeschoss und dem ersten Obergeschoss taten derweil zwei andere Teams dasselbe. Es war laut, staubig und anstrengend. Birgit sorgte aufmerksam fürs leibliche Wohl der Helfenden.


Irgendwann am Nachmittag erfuhr Piebe in einer Pause, dass einem über 80 Jahre alten Ehepaar in der Nachbarschaft gerade von einem Versicherungsgutachter geraten worden war, den Putz in deren Haus nicht zu erneuern. Als Baufachmann hielt er das für keine besonders gute Idee und stattete dem Ehepaar einen Besuch ab, um sie von einem im doppelten Wortsinne substanziellen Fehler abzuhalten. Es zeigte sich aber, dass das Haus mit Beton verputzt war, der tatsächlich nicht unbedingt erneuert werden musste. Also keine profitgetriebene Verarsche alter Menschen. Beim Besuch erfuhr Piebe noch, dass das Ehepaar nach der Flut während drei vollen Tagen das zweite Obergeschoss ihres Hauses nicht hatten verlassen können - vom Wasser eingekerkert in den eigenen vier Wänden.


Als wir uns gegen 17 Uhr auf der Veranda hinter Birgits Haus mit den anderen Helfenden zu Pause bzw. Feierabendbier trafen, fuhr auf der Quartierstrasse ein alter VW-Bus vor. Zwei junge Frauen stiegen aus und offerierten den Freiwilligen kostenlos Getränke und Snacks. Einfach so aus Eigeninitiative, um eine kleine, aber helle Kerze der Menschlichkeit durch dieses gigantische Geröllfeld zu tragen, das nur einen Monat zuvor noch das idyllische Dorf Altenahr gewesen war.


Wenig später machten wir uns auf den einstündigen Weg zu den Bekannten von Piebe, bei denen er uns ein Bett für die Nacht organisiert hatte: Eine herzensgute Familie mit sieben Kindern (plus einem Pflegekind), die schon oft Ahrtal-Freiwilligen Obdach gewährt hatte, um auf diese Weise ihren eigenen, individuellen Beitrag an die gute Sache zu leisten. Es war laut in ihrem Haus und unfassbar turbulent, aber das war gut so; Lebensfreude darf, ja muss gelegentlich laut und turbulent sein.


Wann hatte sich eine Dusche zuletzt so gut angefühlt, wann war eine ordinäre Tiefkühlpizza je eine solche Gaumenfreude, und wann schon verhiess eine Ikea-Ausziehcouch tiefen, erholsamen Schlaf? "Genau heute", lautete an diesem Abend die Antwort; Altenahr hatte unsere Genügsamkeit rekalibriert, womöglich sogar normalisiert. Kurzum: Wir hätten es nicht besser treffen können, also habt vielen Dank, Ihr lieben Menschen da draussen, denen ich vermutlich leider nie wieder begegnen werde.



Bad Neuenahr-Ahrweiler

Gegen 8 Uhr fuhren wir am Samstag frisch gestärkt und mit grandiosem Muskelkater nach Bad Neuenahr-Ahrweiler. Schon am Vorabend hatte uns die NGO einen Auftrag zugewiesen, Judit hatte sich im Auto mit Piebes Handy darum gekümmert: Schlammschaufeln in einem Garten. Am Ziel war jedoch keine Menschenseele, also organisierte uns Piebe einen neuen Einsatz, während Ivana und ich ein wenig durchs Quartier schlenderten, vorbei an Schutthaufen und zerknautschten Autos, derweil aus viel zu vielen Häusern der allgegenwärtige Sound der Bohrhämmer drang.


An der neuen Adresse, dem Platanenweg, trafen wir zwar auf eine nette Frau, aber sie benötigte aktuell keine weitere Hilfe. Eine Nachbarin führte uns dann durch die Gegend, bis wir auf Lukasz trafen, dem wir höchst willkommen waren: In den Kellern der diversen grossen Mehrfamilienhäuser der Überbauung mussten die Rohrleitungen abisoliert werden. Lukasz wohnte selbst in der Überbauung und organisierte freiwillig die Arbeiten vor Ort, stellte auch Werkzeug, Ausrüstung und Lebensmittel zur Verfügung.


Die Ahr hatte das Quartier am Platanenweg bis zur Mitte des erhöhten Erdgeschosses überspült. Normalerweise plätschert das Flüsschen bei etwa 70 Zentimetern Wattiefe gelangweilt in seinem Bett vor sich hin. Mit der Flut schwoll der Wasserstand jedoch auf gegen 7 Meter an; man weiss das nicht so genau, da am Katastrophenabend die Pegelmesser bei 5,75 Metern mitgerissen worden waren.


Weil das Kellergeschoss also komplett unter Wasser gestanden hatte, waren die Isolationen klatschnass und darunter drohten die Heizungsrohre zu korrodieren. Mit Cuttern und Taschenlampen bewehrt ging's in den ersten, feuchten und dunklen Keller. Alle nahmen sich einen Raum vor, dann hiess es im Akkord: Plastikverschalung wegschneiden, Drähte durchtrennen, Glaswolle runterpfriemeln - und zu ignorieren versuchen, wie sich die raustriefende braune Suppe den Armen entlang ihren Weg ins T-Shirt bahnt. Aber gut, es war ja Sommer, da ist man um jede Abkühlung dankbar. Sobald alle Rohre befreit waren, trugen wir die nasse Pampe nach draussen und gingen dann zum nächsten Keller.



Im Verlaufe des Tages machten wir weitere Bekanntschaften mit...

  • ...einem etwas wortkargen, aber rührend hilfsbereiten bärtigen Baggerfahrer, der uns beim Rausschleppen der Abfälle unterstützte;

  • ...einer sehr stämmigen, tätowierten Dame mit Hörgeräten, die aus der näheren Umgebung angereist war und sich schwer atmend abschuftete; sie musste auf einem Leiterchen stehen, um an die Rohre ranzukommen, und schnitt sich versehentlich selbst ins Gesicht;

  • ...einem seltsamen jüngeren Mann, der in einem der oberen Stockwerke wohnte und es in den vergangenen vier Wochen nicht für nötig befunden hatte, seinen Briefkasten beim Eingang zu reinigen, sich aber über den Postboten zu beklagen wusste, der sich offenbar nicht um den getrockneten Schlamm in den Briefkästen scherte;

  • ...einer älteren Anwohnerin, die uns sehr gefasst von jener Nacht erzählte, als das Wasser kam und in ihre Erdgeschosswohnung drang, und vom Versagen des Krisenstabs, der erst nach 23 Uhr eine Katastrophenwarnung ausgegeben und die Menschen zur Räumung ihrer Häuser angewiesen hatte, als bereits das gesamte Ahrtal geflutet war;

  • ...einer Person, an die ich mich leider nicht mehr so genau erinnere, die uns von der Feuerwehr berichtete, die am Abend der Katastrophe gegen 21 Uhr die Leute aufforderte, ihre Autos wegzuparkieren, und von der jungen Frau mit ihrem Kind, die dieser Aufforderung Folge geleistet hatte, woraufhin beide in der Tiefgarage von der Flut überrascht worden waren und ertranken.

Gegen 15:30 Uhr an diesem Nachmittag waren in allen Kellern der Überbauung Platanenweg die Heizungsrohre abisoliert, und wir machten uns erschöpft und nachdenklich auf den Heimweg, zurück in unsere behaglichen, trockenen Stuben.



Epilog

Auch und gerade in der Krise zeigt der Mensch, bis auf ganz wenige Ausnahmen, seine wahre Natur. Und siehe da: Sie ist gut. Wir sind soziale, selbstlose, empathische Wesen. Nicht immer und nicht überall, sicher aber dann, wenn es wirklich darauf ankommt. Das stiftet doch Hoffnung, nicht wahr?


Die Shuttlebusse in Grafschaft haben bislang 73'324 freiwillig helfende Hände ins Krisengebiet gefahren (Stand 19.08.2021).

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