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AutorenbildChatty Avocado

Black Hole Sünneli (Teil "fertig lustig")

Aktualisiert: 25. Juni 2021

Nach zwei Beiträgen über die ersten 9 von insgesamt 23 Kapiteln des aktuellen SVP-Parteiprogramms gebe ich fassungslos, entnervt und angewidert auf. Gelesen habe ich sämtliche 132 Seiten, gefunden kaum Vernünftiges. Eine vorzeitige Schlussabrechnung.

Bild: Pixabay.com (jmexclusives)





Vorbemerkung

Ich hatte der SVP durchaus eine Chance gegeben und versucht, das Projekt "Kritische Würdigung des Parteiprogramms" neutral und ergebnisoffen anzugehen. Aber die Inhalte, die die Partei vermittelt, sind dermassen haarsträubend unvernünftig und nicht selten auch abstossend unmoralisch, dass ich keine Lust mehr habe, über diesen dritten Beitrag hinaus meine Zeit weiter mit solchem Unfug zu vergeuden.


Genau genommen ist es noch schlimmer. Je länger ich das Parteiprogramm der SVP oder Texte ihrer Parteiexponenten lese, desto näher rückt meine körperliche Verfassung an jene einer zünftigen Magen-Darm-Grippe: Ich möchte meine Innereien strahlkotzen und mir die Seele aus dem Leib defäkieren. Aus reiner Selbsterhaltung kürze ich das Projekt daher ab und beende es mit diesem dritten Beitrag.



Das Dogma

Im Grunde verfolgt die SVP eine simple Politik. Sie orientiert sich vor der Kulisse eines gelobten, einzigartigen Helvetiens konsequent am neoliberalen Dogma, wonach es den Menschen am besten gehe, wenn die Privatwirtschaft möglichst ungehindert möglichst viele Aufgaben übernehme. Der Staat soll sich weitgehend heraushalten und sich maximal noch auf Militär, Polizei und allenfalls weitere nicht oder nur schwerlich privatisierbare, unprofitable Aufgaben beschränken. Gesellschaftliche Probleme wie die noch immer nicht ausgestandene Corona-Pandemie betrachtet die SVP eindimensional aus der ökonomischen Perspektive. Wirtschaft und Vaterland sind die goldenen Kälber der Partei.


Die vermeintliche Pointe einer neoliberalen Wirtschaftspolitik besteht in der Annahme, durch sie würden effiziente Märkte ein unendliches Wachstum in Gang setzen und aufrechterhalten. Und Wachstum sei das Analogon eines steigenden, warmen Wasserspiegels, der alle Boote mit sich nach oben trage - die grossen Luxusyachten genauso wie die kleinen, etwas leckenden Nussschalen. Und weil dem so sei, wäre nicht weiter schlimm, dass es riesige Yachten und kleinste Schlauchbötchen gäbe. Die Hauptsache bestünde schliesslich im immerwährend ansteigenden Wasserspiegel, denn was gemäss neoliberaler Theorie dem Wirtschaftswachstum dient, dient letztlich stets allen Menschen.


Eng verknüpft mit dem neoliberalen Dogma ist der Konkurrenzgedanke: Nur Wettbewerb ist gemäss SVP der Garant für Fortschritt, Freiheit und Erfolg. Gleich lange Spiesse oder substanzielle Spielregeln braucht es nach Auffassung der Partei nicht. Wer über eine starke Ausgangsposition verfügt - völlig egal, wie sie zustande gekommen ist -, darf gewinnen und die Eigeninteressen erbarmungslos durchsetzen: Staaten gegen Staaten, Unternehmen gegen Unternehmen, Jeder gegen Jeden. In Kategorien wie (Chancen-) Gleichheit oder Gerechtigkeit braucht schon gar nicht erst gedacht zu werden, denn Markt und Konkurrenz regeln mit unsichtbarer Zauberhand alles und schaffen eine prosperierende Realität.



Die Realität

Seit ungefähr 40 Jahren verfolgen zahlreiche Staaten, allen voran die USA, die neoliberale Lehre. Mit drei fundamentalen Massnahmen wird sie operationalisiert:

  1. Steuersenkungen insbesondere für Grosskonzerne und Reiche

  2. Privatisierungen insbesondere profitträchtiger Staatsbetriebe

  3. Deregulierungen insbesondere von Arbeitsmarkt und Finanzsektor

Die Bilanz des Neoliberalismus nach diesen etwa 40 Jahren ist vernichtend, die grössten und übelsten Geröllbrocken seiner rauchenden Ruine sind:

  • Er sorgte gegenüber anderen wirtschaftspolitischen Konzepten nicht für mehr, sondern bewirkte im Gegenteil sogar sinkendes Wachstum.

  • Er akzentuierte die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen und verschärfte damit soziale Spannungen zum Nachteil von Demokratie und Rechtsstaat.

  • Er forcierte die Konzentration der Unternehmen und unterminierte mit dieser zunehmenden Monopolisierung seine eigene Forderung nach freiem Wettbewerb. Die Marktwirtschaft ist heute mehr denn je eine Machtwirtschaft.

  • Er verhinderte das Aufstreben armer Länder, konservierte oder verschlimmerte die Notlage ihrer Bevölkerungen und schaffte dadurch Migrationsanreize.

  • Er induzierte unfassbare Instabilitäten an den Märkten, und die Folgen dieser Instabilitäten waren globale Wirtschaftskrisen wie u.a. die Dotcom-Blase 2000 und die Finanzkrise ab 2007.

  • Er verringerte nirgendwo auf der Welt die Armutsquoten.

  • Er beschleunigte die Zerstörung der natürlichen Umwelt.

Das neoliberale Dogma war in den letzten vier Jahrzehnten für genau zwei Gruppierungen vorteilhaft: Einerseits machte es eine klitzekleine Elite ohnehin schon sehr reicher Menschen noch etwas reicher, andererseits wurden grosse, mächtige Konzerne noch grösser und mächtiger. Der Rest des Planeten bekam vom Wirtschaftswachstum bestenfalls Brosamen ab - oder blieb so mausarm wie eh und je. Seine Auswirkungen widerlegen die SVP und ihre wirtschaftspolitischen Gesinnungsgenossen auf ganzer Linie: Der Neoliberalismus ist hochkant gescheitert. Wenn vernünftige Menschen mit einer Theorie scheitern, versuchen sie es nächstes Mal mit einer anderen Theorie - nicht so die SVP.


Die realitätsfremde Prämisse des neoliberalen Dogmas liegt in der total absurden Annahme, Wachstum kenne keine Grenzen und würde zu immer mehr Wohlstand und Glück führen. Tatsächlich ist auf einem endlichen Planeten mit endlichen Ressourcen aber per se kein unendliches Wachstum möglich. Zudem wies die Glücks- und Zufriedenheitsforschung bereits Mitte der 1970er Jahre nach, dass ab einem gewissen Niveau eine Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens keinen weiteren Glückszuwachs mehr auslöst. Selbst wenn das Wachstum also unendlich wäre, hätte es irgendwann keinen Einfluss mehr auf das Wohlbefinden des Individuums und mithin einen Grenznutzen von exakt null.


Nebenbei bleibt auf einem fortgeführten Wachstumspfad gut erkennbar auch die Qualität zu Lasten der Umwelt auf der Strecke: Weil in reichen Ländern wie der Schweiz viele Menschen schon fast alles besitzen, was es sich irgendwie (nicht) zu besitzen lohnt, sinkt die Qualität der Produkte durch gezielte Manipulationen der Hersteller in zunehmendem Masse, damit sie in immer kürzer werdenden Intervallen ersetzt werden müssen. Die Wachstums- degeneriert also zur Wegwerfgesellschaft, die sich indessen, vom tumben Konsumismus berauscht, gleichsam selbst dekonstruiert.


Weshalb aber hält die SVP dennoch gegen jede Evidenz, gegen alle Fakten am Neoliberalismus fest? Der aktuelle Parteipräsident ist Ökonom, in der Parteileitung sitzen u.a. Unternehmer, Banker, Berater und Vermögensverwalter. An wirtschaftlichem Fachwissen mangelt es also nicht, was nur zwei Schlüsse zulässt: Entweder sind zumindest die fürs Parteiprogramm verantwortlichen Leute zu blind und/oder zu blöd, sich der Realität zu stellen, oder sie kennen diese Realität sehr genau, verfolgen ihren Kurs aber dennoch unbeirrt weiter, weil sie selbst zu den Profiteuren ihrer Politik gehören und ergo Heuchler und/oder Lügner sind.



Die Lügen

Die SVP gaukelt ihren Wählern vor, für deren Interessen zu politisieren. Tatsächlich politisiert die SVP aber vorwiegend bis ausschliesslich in die eigene Tasche und in die Taschen ihrer Klientel - Reiche und Unternehmen. Der einfache Bürger ist der SVP egal; sein Zweck besteht nur darin, die Partei zu wählen, damit sie ihre Macht und ihren Einfluss festigen kann. Das zeigt sich wie oben ausgeführt bereits daran, dass das neoliberale Fundament ihrer Parteipolitik den allermeisten Menschen mehr schadet als nützt.


Will man das Lügengebäude der SVP detaillierter sezieren und die Wählerverarsche ans Licht zerren, benötigt man dazu bloss ihr Parteiprogramm. Nachfolgend eine nicht mal annähernd abschliessende Auswahl, wie die Forderungen der SVP den Interessen ihrer allermeisten Wähler zuwiderlaufen.

 

"Mit uns hast du einen sicheren Arbeitsplatz!"

Gerade neoliberale Politik ist das krasse Gegenteil einer Garantie sicherer Arbeitsplätze, denn sie fordert maximale Deregulierung des Arbeitsmarktes. Je weniger reguliert ein Arbeitsmarkt aber ist, desto eher werden Arbeitnehmer so weit ausgebeutet, wie das nur irgendwie machbar ist. Die SVP bekämpft denn auch aktiv alles, was die Rechte der Arbeitnehmer und damit deren Freiheit und Sicherheit gewährleisten oder gar fördern würde: Arbeitszeitkontrolle, Mindestlöhne, Arbeitssicherheit, Sozialleistungen, Gesamtarbeitsverträge, Gewerkschaften.


Die konkrete Politik der SVP ist voll und ganz auf die Interessen der Arbeitgeber ausgerichtet. Die Folgen für die Arbeitnehmer sind: Weniger sichere Arbeitsplätze bei gleichzeitig tieferen Löhnen und allgemein schlechteren Arbeitsbedingungen.

 

"Mit uns bleibt dir Ende Monat mehr Geld übrig!"

Die SVP-Gebetsmühle "tiefere Steuern, Abgaben und Gebühren" würde womöglich dazu führen, dass die Bürger kurzfristig etwas mehr Geld zur freien Verfügung hätten. Dieses potenzielle Plus an freien Mitteln kann aber nur über ein sicheres Minus an staatlichen Leistungen erkauft werden. Heisst konkret: Tiefere Taggelder bei Arbeitslosigkeit, Unfällen und Invalidität, weniger Sozialhilfe, höheres Rentenalter und niedrigere Renten, schlechtere Infrastruktur usw. usf.


Da die SVP zugleich eine Abflachung der Steuerprogression und tiefe Unternehmenssteuern fordert, wird schnell klar, dass primär Unternehmen und Reiche die Profiteure von "tiefere Steuern, Abgaben und Gebühren" sind. Also genau jene Personen, die fehlende oder unzureichende staatliche Angebote problemlos auch bei privaten Anbietern beziehen und bezahlen können. Mittel- und Geringverdiener sind demnach vom Leistungsabbau betroffen, und die durch den Leistungsabbau freiwerdenden Staatsmittel kriegen Besserverdiener als Steuergeschenke. Ein klassischer Transfer von bald arm zu bereits reich.


Daneben hält die SVP auch eisern am Föderalismus fest und will möglichst viele Aufgaben von oben nach unten verschieben (vom Bund zu den Kantonen, von den Kantonen zu den Gemeinden, von den Gemeinden in die Eigenverantwortung der Bürger). Aufgrund des Föderalismus haben alle Kantone und Gemeinden eigene Gesetze, Verordnungen und Reglemente, eigene IT-Systeme etc. Dass eine solche Organisationsform völlig ineffizient ist, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass dadurch hohe Kosten entstehen, die vom Steuerzahler zu berappen sind.

 

"Mit uns lebst du in Sicherheit!"

Die SVP möchte die Ausgaben für die Armee ausweiten, die schon heute zu Vollkosten pro Jahr etwa zehn Milliarden Franken verschlingt und jeden Haushalt mit ungefähr 2'600 Franken jährlich belastet. Diese im Widerspruch zur Maxime "tiefere Steuern, Abgaben und Gebühren" stehende Forderung versucht die SVP mit einem Sicherheitsargument zu rechtfertigen.


Konkrete Bedrohungen, die die Aufrechterhaltung einer eigenen Armee rechtfertigen würden, existieren jedoch schon längst nicht mehr. Wenn die Welt tatsächlich unsicherer geworden sein sollte, dann wegen Politikern wie jenen der SVP. Zudem ist die Illusion, ein Kleinstaat wie die Schweiz könne sich gegen jede Aggression selbständig verteidigen, ohnehin geradezu lachhaft. Im Übrigen: Jeder Leidensgenosse, der in der Schweizer Armee dienen musste, weiss sehr genau Bescheid um die hundsmiserable Erbärmlichkeit dieses himmeltraurigen Saftladens. Mehr Sicherheit hat also dank der Armee niemand im Lande, bloss höhere Steuern und via Dienstpflicht auch noch eine beträchtliche Einschränkung der Freiheit (den Zivildienst als sinnvolle Alternative will die SVP übrigens auch abschaffen).


Nebenbei macht sich die SVP für ein "eigenständiges, liberales" Waffenrecht stark. Inwieweit ein solches Waffenrecht zur Sicherheit der Bevölkerung beiträgt, demonstrieren die zahlreichen Amokläufe in den USA mehr als hinreichend. Und wenn in der Schweiz mal einer Amok läuft, dann gerne mit Dienstwaffe.

 

"Mit uns hast du ein hochwertiges und günstiges Gesundheitswesen!"

Die SVP will die Privatisierung im Gesundheitswesen weiter vorantreiben und verspricht, dadurch werde alles besser und erst noch billiger. Die Partei fordert aber, dass die Selbstbehalte der obligatorischen Krankenversicherung erhöht werden, für jeden Praxisbesuch resp. ambulanten Behandlungsfall ein Selbstkostenanteil in bar zu entrichten sei, der Leistungskatalog der obligatorischen Grundversicherung zusammengestrichen werde und die "Akademisierung der Pflegeberufe" zu stoppen sei.


Das Ergebnis einer solchen Politik ist absehbar: Die garantierten Leistungen werden weniger und für den Bürger erst noch kostspieliger. Die nahezu finale Ausbaustufe einer hochgradigen Privatisierung kann in den USA begutachtet werden: Mit Abstand teuerstes Gesundheitswesen weltweit, etwa 10% der Bevölkerung ohne Krankenversicherung, Spanne der Lebenserwartung zwischen 76,4 Jahren (reiche weisse Männer) und 57,9 Jahren (arme schwarze Männer).


Man braucht sich zur Sinnhaftigkeit eines weitgehend privatisierten Gesundheitswesens bloss die Anreizstrukturen zu vergegenwärtigen: Ein privates Spital hat null Interesse an Gesunden, weil dies seine Profite schmälert. Gesellschaft und Individuen haben genau gegenteilige Interessen.

 

"Mit uns kriegst du gesunde Nahrungsmittel aus einheimischer Produktion!"

Gemäss "Avenir Suisse" kostet die hiesige Landwirtschaft jeden Haushalt jährlich etwa 2'000 Franken wegen zu hoher Preise und Subventionen. Die SVP sorgt mit ihrer die Schweizer Bauern behütenden Politik demnach für eine Zusatzbelastung der Bevölkerung. Andererseits werden mit Subventionen und ähnlichen Handelshemmnissen zu Gunsten der heimischen Landwirtschaft ärmere Länder auf dem Weltmarkt benachteiligt. Und was machen arme Bauern des globalen Südens, wenn sie ihre Produkte nicht verkaufen können und also nicht genug zum Leben haben? Genau: Sie migrieren in den Norden.


Damit die Landwirtschaft in der Schweiz effizienter werden kann, soll sie nach Auffassung der SVP grossindustriell produzieren dürfen und vor weiteren Vorschriften und Regulierungen verschont bleiben. Die Bauern sollen demnach wenig bis keine Rücksicht auf Tierwohl und Natur nehmen müssen, d.h. Massentierhaltung betreiben und auf Monokulturen grossflächig synthetische Pflanzenschutzmittel ausbringen dürfen und dergleichen mehr. Gesündere Nahrungsmittel entstehen dadurch gewiss keine, eine schöne und intakte Natur ebenso wenig.


Den Protektionismus und die damit verbundenen hohen Kosten für die Bevölkerung versucht die SVP mit Versorgungssicherheit zu begründen. Ähnlich wie bei der Armee ist dieses Argument jedoch ein schlechter Witz, da ein Kleinstaat mit der Bevölkerung und Topografie der Schweiz grundsätzlich kaum je eine Autarkie seiner Lebensmittelversorgung erreichen kann. Heute sind wir, wenn man auch die Futtermittelimporte berücksichtigt, übrigens bei einem Selbstversorgungsgrad von etwa 25%.

 

"Mit uns bleibt die Umwelt intakt und sauber, jetzt und für kommende Generationen!"

Hahahaaahahahahaaa... der war gut. Nicht. Die SVP wehrt sich stets an vorderster Front gegen jegliche Massnahmen zum Erhalt und zur Wiederherstellung der natürlichen Umwelt. Ihr Argument: Steuern und Abgaben würden nur alles verteuern und die Wirtschaftsfreiheit massiv einschränken. Die Partei will den Umweltschutz daher lieber dem Gutdünken der Unternehmen und Privatpersonen überlassen. Wie ausgezeichnet das funktioniert, kann man etwa in Indien begutachten. Oder auch in der früheren Schweiz, als es nur wenige und erst noch lasche gesetzliche Vorgaben zum Umweltschutz gab.


Inzwischen ist wissenschaftlich längst jeder Zweifel ausgeräumt: Der Klimawandel, die anthropogene globale Erwärmung sind real. Und: Umweltzerstörung verursacht in Summe deutlich höhere Kosten als Umweltschutz. Vorsorge ist auch hier günstiger als Nachsorge, und Beispiele dafür finden sich zuhauf, u.a. in der Sanierung früherer Sondermülldeponien wie jener im aargauischen Kölliken.


Man kann sehr wohl heute von CO2-Abgaben o.ä. absehen und hat dadurch heute etwas niedrigere Kosten - aber was ist mit morgen, wenn es denn überhaupt noch ein Morgen gibt? Und wer ist von Umweltschäden am härtesten betroffen? Kleiner Tipp: Die Reichen sind's nicht.

 

"Mit uns kriegst du eine praxisnahe Ausbildung und gute Arbeitsmarktchancen!"

Hauptzweck des Bildungswesens ist nach Auffassung der SVP, jene Arbeitskräfte heranzuzüchten, nach denen die Unternehmen verlangen. Und idealerweise sollten diese Arbeitskräfte bitte keinen tertiären Bildungsweg begehen, sondern eine gute alte Berufslehre machen. Vordergründig, weil sie dadurch näher an der Praxis sind, hintergründig wohl eher, damit sie nicht zu schlau werden und auf die Idee kommen, den Bullshit der SVP zu hinterfragen und dann flugs andere Parteien zu wählen.


Der private Bildungssektor sei gemäss SVP zu stärken, Studiendarlehen zu fördern und Stipendien herunter zu fahren. Progressive Unterrichtsmethoden und Therapieangebote werden abgelehnt. Die Vorstellungen der SVP zur Bildungspolitik rücken also in keiner Weise das Individuum und seine Bedürfnisse ins Zentrum, sondern ausschliesslich die Interessen der Wirtschaft. Mit Schulnoten ab der ersten Klasse sollen die zukünftigen Zahnrädchen schon früh auf Leistung getrimmt werden.


Wohin die Politik der SVP führt, stellen mal wieder die USA schön zur Schau: Schüler und Absolventen schliessen in internationalen Vergleichen unterdurchschnittlich ab, sozial Benachteiligte haben keinen oder nur erschwerten Zugang zum tertiären Bildungsbereich. Und wer an eine Uni will, muss dafür im Schnitt zwischen etwa 20'000 (öffentliche Uni) bis über 45'000 Dollar (private Uni) löhnen. Mehr als 50 Millionen US-Amerikaner sind derzeit mit je ca. 30'000 Dollar an Studiendarlehen verschuldet. Hilft die SVP-Bildungspolitik also den Bürgern? Nein, sie hilft wie üblich vorwiegend den Unternehmen.

 

"Mit uns erhältst du maximale Freiheiten!"

...aber nur unter den Voraussetzungen, dass du einer christlichen Religion angehörst, heterosexuell bist und ein traditionelles Familienverständnis hast. Denn die SVP lehnt eine Anerkennung "nicht-westlicher Religionsgemeinschaften" als Körperschaften des öffentlichen Rechts ab, ebenso ist die Partei gegen Kopfbedeckungen an Schulen und die Verhüllung des Gesichts aus religiösen oder anderen Gründen (mit Ausnahme einheimischen Brauchtums). Besondere Feiertagsregelungen oder Grabregeln anderer, d.h. nicht-westlicher Religionen findet die SVP ebenfalls blöd.


In Kinderkrippen, Mittagstischen und Tagesstrukturen sowie Reformen des Ehe- und Familienrechts für weitere Arten des Zusammenlebens (z.B. gleichgeschlechtliche Ehen) erkennt die SVP Bevormundung und eine "Verstaatlichung der Familie", sie lehnt dergleichen daher kategorisch ab. Tatsächlich weiten diese und andere, ähnlich gelagerte Anliegen aber die Freiheit der Lebensgestaltung für alle Bürger aus. Wie bei der Religion versteht die SVP den Freiheitsbegriff auch in Fragen von Familie und Zivilstand nur insoweit er sich passgenau in ihre radikalhelvetische, christlich-abendländische Ideologie einfügt.


Daneben hat die SVP u.a. ein Problem damit, dass das Bundesamt für Gesundheit Kampagnen zur Tabak- und Alkoholprävention betreibt. Gleichzeitig dürfen andere Rauschmittel gemäss der Partei aber keinesfalls legalisiert werden. Die Freiheit zur Selbstzerstörung ist also nur mit jenen Substanzen vereinbar, deren Konsum die SVP über zahlreiche, gut bezahlte Mandate vertritt. So ist beispielsweise SVP-Nationalrat Gregor Rutz Präsident von "Swiss Tobacco". Wem da nicht der Schädel raucht...

 

Die obige Auflistung der Wählertäuschungen zeigt vor dem Hintergrund der negativen Auswirkungen des Neoliberalismus, an den sich die SVP stur festklammert, ohne jeden Zweifel: Die SVP politisiert nicht für jene Menschen, für die zu politisieren sie in ihrem Parteiprogramm vorgibt, für die einfachen Bürger. Und sie politisiert noch nicht einmal für ihre Hardcore-Wähler, die sie holzschnittartig zu wahren Schweizern idealisiert. Sie politisiert fast ausnahmslos für Unternehmen und für eine kleine, reiche Elite.


Man könnte nun behaupten, es handle sich hier nicht um Täuschung und schon gar nicht um Lügen, weil jedermann frei sei, das Parteiprogramm der SVP zu lesen und die wahren Zielbegünstigten ihrer Politik zu erkennen. Eine solche Behauptung wäre jedoch völlig sinnfrei, denn die Täuschungsabsicht der Partei ist mehr als offensichtlich und Lügen finden sich in ihrem Parteiprogramm in sehr ansehnlicher Zahl.


Ein abscheuliches Vermächtnis des Heilands des globalen Rechtspopulismus, Donald Trump, besteht in der Relativierung und Umdeutung der Wahrheit. An die Stelle von gesicherten Fakten rückten haltlose Behauptungen, Tatsachen wurden durch Lügen ersetzt, objektive Berichterstattung in den Medien als Fake-News abgetan, die Wissenschaft diffamiert, Verschwörungstheorien gezimmert. Auch die SVP ist längst, ihr Parteiprogramm und die Wortmeldungen ihrer Mitglieder zeigen es überdeutlich, auf diesen Katastrophenzug aufgesprungen, Herrliberg-Irrsin einfach, bitte.


So oder so stellt sich unweigerlich die Frage, wie eine Partei mit notorisch niederen Motiven dermassen erfolgreich sein kann - die SVP-Fraktion belegt derzeit 55 von 200 Sitzen im Nationalrat.



Der Erfolg

Der Erfolg einer rechtspopulistischen Partei wie der SVP, die auf der Sachebene in keiner Weise zweckdienliche und zielführende Argumente hat, ist, man muss es leider einräumen, einer beispiellosen Marketingleistung zu verdanken. Wie ähnlichen Parteien in anderen Ländern ist es auch der SVP gelungen, sich zur heroischen Rebellin zu stilisieren, zum patriotischen David gegen einen wüsten, landesverräterischen Goliat, zur letzten Widerstandskämpferin gegen den drohenden Untergang der schönen Schweiz. Einer Schweiz, die uns und nur uns Bioschweizern per Geburtsrecht zusteht.


Erreicht wird diese leicht verständliche und mithin auch einfach zu kommunizierende Position durch ein realitätsverzerrendes, binäres Freund-Feind-Schema: Es gibt nur noch die Guten (die SVP) und die Bösen (alle anderen). Diese Bösen werden von allen wackeren SVP-Parteisoldaten immer und immer wieder beim Namen genannt, damit niemand sie je vergisst: Die Linken, die Netten, die Gutmenschen, die Mainstream-Medien, die Eliten, die "classe politique", der Bundesrat, die Behörden und, nicht zu vergessen, die Ausländer und Asylanten und darunter insbesondere die Muslime.


Indem man das Feindbild grossflächig und in einem solch harten Kontrast zeichnet, wird man selbst automatisch zum Freund, ohne sich explizit als solchen bezeichnen zu müssen. Die Propaganda der SVP erklärt auch gleich sehr simpel, was der Feind will, worin die Absichten des Ungeziefers bestehen: Es will das Volk einschränken, es in den Sozialismus führen; in eine Gesinnungsdiktatur, in der alles verboten ist, was Spass macht. Es will immer nur der Wirtschaft schaden. Es negiert die Schweizer Werte, die Schweizer Kultur, die Schweizer Traditionen. Es will die Demokratie, ja die gesamte Schweiz abschaffen. Und aus all diesen Missetaten will der Feind auch noch Ruhm und Profit schlagen.


Auf der Seite der Guten hingegen findet sich eine vermeintlich leitkulturhomogene Gruppe wieder, die mit hurrapatriotischem Geschwurbel zusammengepappt wird wie Cervelat-Wurstmasse im Naturdarm. Und weil diese Guten so mustergültig indoktriniert worden sind, spielen Inhalte, Fakten und Argumente keine Rolle mehr. Es reicht, dass man zu den Guten gehört - mehr muss man nicht wissen, wenn man zur Urne schreitet. Auch die Ausübung politischer Rechte wird dadurch ausgesprochen einfach und bequem, man braucht sich nicht mehr mit komplexen Sachfragen auseinander zu setzen. Die SVP kreiert äusserst erfolgreich willfährige Zombie-Stimmbürger, die dumpf nach ihrer braunen Pfeife tanzen.



Fazit

Mitte der 1960er Jahre befasste sich der deutsche Staats- und Verwaltungsrechtler und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde mit dem Problem säkularisierter Staaten, soziales Kapital zu erschaffen. Wo zuvor noch Adel und Kirche die Gesellschaft mit einem totalitären Normensystem zusammenhielten, stellte sich im modernen, demokratischen Rechtsstaat die Frage nach dem verbindenden Ethos, denn ohne Gemeinsinn, ohne Zusammenhalt ist ein Staat nicht überlebensfähig. Böckenfördes Diktum lautet:


"Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann."

Ein freiheitlicher Staat kann seine Voraussetzungen - das ihn verbindende Ethos, den sozialen Fugenkitt der Gesellschaft - nicht über Rechtsnormen garantieren, weil er sonst die Freiheitlichkeit preisgeben müsste. Der Staat kann daher, mit Aristoteles gesprochen, nur tugendhaft werden, wenn seine Bürger tugendhaft sind. Nur dann wird auf einer Basis gegenseitigen Vertrauens soziales Kapital geschaffen, also Werte wie u.a. Hilfsbereitschaft, Kooperation und Solidarität. Ohne solche Werte verliert jede Gemeinschaft, von der Familie bis zur gesamten Menschheit, ihre Kohäsionskraft.


Der (absichtliche oder grobfahrlässige) Grundlagenirrtum rechtspopulistischer Parteien wie der SVP besteht darin, dass sie einerseits mit ihrer auf Konflikt und Konkurrenz setzenden Politik eine grotesk ungerechte Verteilung der Ressourcen erzeugen, und andererseits trotzdem die Erwartung hegen, in einem dergestalt vergifteten gesellschaftlichen Klima würden die Menschen eigenverantwortlich mit anderen kooperieren, ohne dass staatliche Ausgleichsmechanismen gefordert oder nötig wären. Genauso ultimativ idiotisch wäre es, wenn ein Mafiapate annähme, die Clanmitglieder würden interne Konflikte doch sicher besonnen und gewaltfrei lösen. Auf unfruchtbarem Boden wächst aber nichts.


Tatsächlich würde ein Gemeinwesen umso besser funktionieren, je gerechter es ausgestaltet wäre, denn aus Gerechtigkeit entspringt Vertrauen und aus Vertrauen wiederum entsteht der Wille zur Kooperation. Wenn die aktuell gültigen Regeln eines Gemeinwesens jedoch ungeeignet sind, gerechte Verteilungen hervorzubringen, dann müssen diese Regeln dementsprechend geändert werden. Und genau gegen dieses "linke" Ansinnen stellen sich Rechtspopulisten wie die SVP kategorisch, sie wollen stattdessen den ungerechten Status quo mit allen Mitteln erhalten, egal wie unlauter sie auch sein mögen.


In den vergangenen Jahren befanden sich rechte bis rechtsradikale Parteien weltweit im Aufwind:

  • AfD in Deutschland

  • AKP in der Türkei

  • APB in Brasilien

  • BJP in Indien

  • "Einiges Russland" in Russland

  • FPÖ in Österreich

  • Fidesz in Ungarn

  • PiS in Polen

  • Republikanische Partei in den USA

  • Weisse Rus in Weissrussland

Alle diese Parteien, die Liste ist leider bei weitem nicht abschliessend, politisieren ähnlich aggressiv und destruktiv wie die SVP. Lösungen, die diesen Namen verdient hätten, sucht man vergeblich, stattdessen erhält man leicht verständliche Scheinlösungen, bisweilen auch für Scheinprobleme. Für echte Probleme wie z.B. den Klimawandel als grösste Herausforderung unserer Zeit erhält man indes keine Antworten, sondern bestenfalls sinnentleerte Pflästerlipolitik, schlimmstenfalls Ignoranz und Leugnung.


Wo solche Parteien wüten, sind ihren Versprechungen diametral zuwiderlaufende Tendenzen nicht die Ausnahme, sondern die allgemeine Regel, siehe insbesondere Russland: Die Freiheit wird zu Gunsten einer gelenkten Demokratie oder Autokratie beschränkt, die Medien werden unter staatliche Kontrolle gestellt, die Sicherheit nimmt ab und soziale Ungleichheiten nehmen dramatisch zu, Fremde und Kritiker werden drangsaliert, die Rechtsprechung folgt den Vorgaben der Herrschenden.


Eine bessere Welt für möglichst viele Menschen interessiert diese Parteien nicht, moralische Prinzipien sind ihnen fremd. Der Begriff "Moral" findet sich im 132-seitigen Parteiprogramm der SVP an genau einer Textstelle: "...Gewinn zu erzielen, wird inzwischen moralisch in Frage gestellt". Tatsächlich ist aber, wir sind zurück bei Böckenförde, nichts weniger als Moral die Voraussetzung einer funktionierenden Gesellschaft und folglich muss Moral permanent im Fokus der Politik stehen.


Rechtspopulistische Parteien wie die SVP wollen jedoch nicht über Begriffe wie Gerechtigkeit oder Moral diskutieren, in ihrer Ideologie beantworten Markt und Wettbewerb alle diesbezüglichen Fragen. Dass dadurch keine gerechten Verteilungen zustande kommen, ist für diese Parteien ein völlig belangloses Faktum, weil sie Ungerechtigkeit und Ungleichheit quasi als Naturgesetze betrachten - ein geradezu paradigmatischer Kategorienfehler, denn die ungerechten Verteilungen haben ihren Ursprung in einer artifiziellen, von uns Menschen geschaffenen Ordnung, und per Geburt sind wir biologisch alle gleich.


Die heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen sind hochgradig dysfunktional und haben krass unmoralische und gefährliche Konsequenzen. Diese negativen Auswirkungen verschärfen schon heute auf dem gesamten Globus Konflikte und riskieren schlimmstenfalls den Fortbestand unserer Spezies. Ob es uns also gefällt oder nicht: Wir müssen die heutigen Ordnungen anpassen, wenn wir in Zukunft frei und sicher leben wollen. Die Konservierung des Status quo führt über kurz oder lang ins Verderben. Es ist unser aller Aufgabe, einen schlüssigen Gegenentwurf zum Neoliberalismus und zur Rechtspolitik einer SVP zu entwickeln und diesen Gegenentwurf durchzusetzen. Ausgereifte Ansätze wie z.B. die Gemeinwohl-Ökonomie existieren bereits.


Erzkonservative Parteien wie die SVP müssen daher mit allen Mitteln bekämpft und ihre Täuschungen und Lügen schonungslos aufgedeckt werden. Denn ihre Politik spaltet und zersetzt die Gesellschaft, sie führt weg von Demokratie und Rechtsstaat, weg von Freiheit und Sicherheit, weg von echtem Fortschritt, weg von einer gerechteren und besseren Welt mit weniger Leid und Not, weg von einem intakten Ökosystem, insgesamt weg von einer lebenswerten Zukunft - und hin zu einer dystopischen Renaissance eines längst überwunden geglaubten Feudalismus.


 

Wenig erstaunlicher, aber exemplarischer Nachtrag: Auch der neue Präsident der SVP, Marco Chiesa, lügt hemmungslos. In seinem Editorial vom 11.03.2021 auf der SVP-Website über die jüngsten Erfolge der Partei (Annahme der Initiative "Ja zum Verhüllungsverbot", drei zusätzliche SVP-Sitze im Parlament des Kantons Solothurn, Einzug eines SVP-Kandidaten in den Staatsrat Wallis, Öffnung der Läden nach der zweiten Pandemiewelle, Aktion "Beizen für Büezer") schreibt er unter dem Titel "Erfolgswelle der SVP: Worüber die linken Medien nicht berichten" dies: "Haben Sie von all diesen SVP-Erfolgen in den Medien vernommen? Kennen Sie einen Journalisten, der darüber offen und ehrlich berichtet hat? Ich kenne keinen. Die linken Medien verschweigen, was ihnen nicht in den ideologischen Kram passt."


Nun, ich habe kurz gegoogelt: Über restlos alle diese Ereignisse wurde zumindest auf SRF, im Blick und im Tagesanzeiger berichtet. Was also ist von einer Partei zu halten, deren Präsident sogar schon in derart banalen Angelegenheiten die eigene Ideologie über die Wahrheit setzt und im gleichen Atemzug die Medien mit haltlosen Unterstellungen diffamiert? Nichts, wirklich rein gar nichts.


Der erste Teil dieser Beitragsreihe findet sich hier, der zweite hier.

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